Karlheinz Niclauß: Einer muss verzichten (FAZ vom 10. Januar
2002)
Wie nominiert man einen Kanzlerkandidaten? Diese Frage
stellt sich für die beiden großen deutschen Parteien in regelmäßigen Abständen,
wurde bisher jedoch weder von den Sozialdemokraten noch von der CDU eindeutig beantwortet.
Beiden Parteien fehlt ein verbindliches Nominierungsverfahren. Das Statut der
Sozialdemokraten sieht seit 1993 zwar die Wahl des Kanzlerkandidaten durch die
Mitglieder vor. Von dieser Möglichkeit wurde bisher aber kein Gebrauch gemacht.
Während die SPD mit ihrem amtierenden Kanzler Schröder, der auch zur nächsten
Bundestagswahl antritt, Aaus dem Schneider A ist, debattieren die Unionsparteien und die Medien lebhaft über die Frage,
ob Herz-Dame oder Kreuz-Bube die bessere Karte sei. Mancher blickt ein wenig
neidisch auf die britische Insel. Dort entschieden sich die Konservativen
kürzlich in einer Mitgliederabstimmung für einen der beiden
Premierminister-Kandidaten, die ihnen die Unterhausfraktion präsentiert hatte.
Die Nominierung von Kanzlerkandidaten kann in den
Parteien auf mehreren Wegen erfolgen: durch Beschluß des Vorstands, des
Parteitags, der Parlamentsfraktion oder durch eine Abstimmung der Mitglieder.
Ein Mitentscheidungsrecht mehrerer Parteiorgane ist ebenfalls vorstellbar. Für
die Lösung der Kandidatenfrage bei den Unionsparteien sind diese Überlegungen
zur Zeit alle unrealistisch, weil die Personaldiskussion bereits in vollem
Gange ist. Die Frage nach dem Kanzlerkandidaten der Unionsparteien hat sich
diesmal in besonderer Weise zugespitzt, da sich die beiden Vorsitzenden der ASchwesterparteien@ als
Konkurrenten gegenüberstehen und weitere Kandidaten nicht mehr erwartet werden.
In der Vergangenheit entschied die Unionsfraktion, die das einzige gemeinsame
Gremium von CDU und CSU darstellt, mehrfach über die Kanzlerkandidatur. Ludwig
Erhard, Kurt Georg Kiesinger und Franz-Josef Strauß wurden aufgrund einer
Abstimmung in der Fraktion nominiert.
In der gegenwärtigen Situation ist dieses Verfahren kaum
anwendbar. Eine Abstimmung in der Fraktion oder in den Parteigremien würde mit
der Niederlage von Merkel oder Stoiber enden und dauerhafte Blessuren
hinterlassen. Die Kanzlerfrage der Union lautet deshalb nicht nur, wer Kandidat
bei der nächsten Bundestagswahl sein wird. Von gleich großer Bedeutung ist
vielmehr die Frage, wie man vermeidet, daß der unterlegene Kandidat (oder die
nichtberücksichtigte Kandidatin) sein Gesicht verliert.
Aus diesem Dilemma gibt es eigentlich nur einen Ausweg:
Einer der beiden Konkurrenten muß den anderen als Kanzlerkandidaten vorschlagen
und damit selbst auf die Kandidatur verzichten. Die (oder der) auf diese Weise
Nominierte kann anschließend durch gleichlautende Beschlüsse der Präsidien von
CDU und CSU oder auch durch eine Beschluß der gemeinsamen Bundestagsfraktion
als Herausforderer Schröders bestätigt werden.
Ob die über Monate andauernde
Kandidatendiskussion die Wahlaussichten von CDU und CSU beeinträchtigt, ist
zweifelhaft, denn dieses Thema wird die Medien im Herbst 2002 kaum noch
beschäftigen. Auch die Fragen der Außenpolitik und der Terrorismusbekämpfung
könnten in den nächsten Monaten wieder in den Hintergrund treten.Vieles spricht
dafür, daß die nächste Bundestagswahl auf dem Gebiet der Wirtschafts- und
Sozialpolitik ausgefochten und entschieden wird. Ob die Zuwanderungsproblematik
für die CDU/CSU ein dankbares Wahlkampfthema ist, scheint zumindest fraglich.
Der Mobilisierungseffekt der hessischen Unterschriftenaktion vor der
Landtagswahl vom Februar 1999 läßt sich kaum wiederholen, und wichtige Gruppen
wie die Unternehmer und die Kirchen haben inzwischen Vorstellungen artikuliert,
die sich von denen der Union unterscheiden.
Nach der nächsten Bundestagswahl
sind die Parteien aufgerufen, ihre Verfahren zur Bestimmung des
Kanzlerkandidaten verbindlich festlegen. Wie bei einer normalen
Stellenbesetzung werden auch in diesem Fall Transparenz und Ojektivität die
Qualität der Bewerber positiv beeinflussen. Den bei den britischen Parteien
üblichen Mitgliederentscheid über die Person des Leaders betrachten die
Führungsgremien der deutschen Parteien mit Skepsis. Gerade für die CDU/CSU
hätte aber eine Wahl des Spitzenkandidaten durch die Mitglieder deutliche
Vorteile. Sie würde nämlich die Befürchtungen der CSU vor eine Majorisierung im
Unionslager zerstreuen, weil ein Kandidat aus Bayern auch mit Stimmen aus der
CDU-Mitgliedschaft rechnen kann.