Vertrauensfrage – ein Plebiszit für die Neuwahl (Süddeutsche Zeitung vom 1. Juni 2005 – der Titel des Beitrags stammt nicht von mir!)

 

Gerhard Schröder strebt Neuwahlen zum Bundestag auf dem Weg über die im Grundgesetz vorgesehen Vertrauensfrage an und folgt damit dem gleichen Weg, den vorher Willy Brandt und Helmut Kohl einschlugen. Der Makel dieses Verfahrens liegt darin, dass der Kanzler auf die Ablehnung seiner Vertrauensfrage hinarbeiten muss, indem er zum Beispiel Abgeordneten seiner Regierungsfraktionen rät, nicht an der Abstimmung teilzunehmen oder sich der Stimme zu enthalten. Weil der Regierungschef in dieser Situation keinen Wert auf den formellen Vertrauensbeweis legt, hat sich für dieses Verfahren der abwertende Begriff der „unechten Vertrauensfrage“ eingebürgert. Nach der vorherrschenden verfassungsrechtlichen Meinung entspricht die im voraus geplante Ablehnung der Vertrauensfrage weder den Absichten des Parlamentarischen Rates, noch dem Geist des Grundgesetzes. Sie kann deshalb allenfalls unter strikten Auflagen akzeptiert werden. In Pressekommentaren wird sogar ein Manipulationsverdacht geäußert.

 

Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte des Artikels 68 lässt aber Zweifel an dieser restriktiven Interpretation von Vertrauensfrage und Parlamentsauflösung aufkommen. Bei den Grundgesetzberatungen im Parlamentarischen Rat wurden die Vertrauensfrage und die damit verbundene Bundestagsauflösung erstmals mit einem Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses im November 1948 zur Diskussion gestellt. Dieser Dreierausschuss war damals besetzt mit Heinrich von Brentano (später Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Bundesaußenminister), August Zinn (SPD, damals Justizminister und später Ministerpräsident in Hessen) und Thomas Dehler (FDP, Bundesjustizminister 1949-1953). Nach ihrer Formulierung waren Neuwahlen unter zwei Bedingungen möglich: falls eine Vertrauensfrage vom Bundestag abgelehnt wird, oder falls der Bundestag dem amtierenden Kanzler das Misstrauensvotum ausspricht, ohne einen Nachfolger zu wählen. Die Auflösung des Bundestages sollte nach Auffassung des Redaktionsausschusses nicht nur auf Initiative des Kanzlers, sondern auch durch die Mehrheit des Bundestages selbst eingeleitet werden können. Der Vorschlag enthielt somit, wie Dehler ausdrücklich bestätigte, neben dem Weg zu Neuwahlen über die Vertrauensfrage auch „den Weg der Selbstauflösung“.

 

Der Vorschlag des Redaktionsausschusses stieß im Parlamentarischen Rat auf Bedenken, weil er dem Grundgedanken des konstruktiven Misstrauensvotums widersprach. Die SPD-Fraktion legte deshalb einen Entwurf zur Vertrauensfrage vor, der mit der heute gültigen Fassung des Artikels 68 bis auf stilistische Abweichungen identisch ist. Das „destruktive“ Misstrauensvotum fiel weg; die Ablehnung der vom Kanzler gestellten Vertrauensfrage blieb als Voraussetzung für vorzeitige Neuwahlen bestehen. Der Bundeskanzler ist – im Gegensatz zum Vorschlag des Redaktionsausschusses – auch nach der Ablehnung seiner Vertrauensfrage Herr des Verfahrens, weil er entscheiden kann, ob er dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages vorschlägt oder nicht.

 

In der neuen Fassung des Artikels 68 sollte die Vertrauensfrage aber nicht nur für den Fall gelten, dass die Bundestagsmehrheit des Kanzlers bedroht ist. Der Autor dieses Grundgesetzartikels, der Sozialdemokrat Rudolf Katz (damals Justizminister in Schleswig-Holstein, später Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts), erklärte vor dem Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates, der Bundeskanzler könne sich dieses Artikels auch bedienen, falls er „den Wunsch hat, eine wichtige politische Frage durch das Volk entscheiden zu lassen“. Gegen diese Interpretation gab es keinen Widerspruch, und das eindeutige Abstimmungsergebnis von sechzehn zu zwei Stimmen ist als Billigung durch die Fraktionen des Parlamentarischen Rates zu werten.

 

Aus der Sicht von Rudolf Katz war die Vertrauensfrage des Grundgesetz ein wichtiges Argument gegen die Anträge der Zentrumspartei und der KPD, das Volksbegehren und den Volksentscheid in das Grundgesetz aufzunehmen.  Bei der Diskussion über diese plebiszitären Elemente verwies er auf die Möglichkeit einer vorzeitigen Parlamentsauflösung und fügte hinzu: „Wenn wichtige Fragen strittig sein sollten, wird die Auflösung des Bundestages herbeigeführt“ (Hauptausschuss, 8. Dezember 1948). Mit der Aufnahme der Vertrauensfrage ins Grundgesetz sollten demnach Volksbegehren und Volksentscheid überflüssig werden. Katz wiederholte seine erweiterte Interpretation der Vertrauensfrage bei der zweiten Lesung des Grundgesetzes im Hauptausschusses am 8. Januar 1949 und erklärte lapidar: „Der Sinn des Artikels . . . ist, der Regierung die Chance zu Neuwahlen zu geben, wenn sie es für gegeben erachtet“. Widerspruch gegen diese Feststellung ist auch bei dieser Gelegenheit im Protokoll nicht verzeichnet.

 

Nach der Entstehungsgeschichte zu urteilen, ist die Vertrauensfrage nicht nur als ein Mittel gegen eine drohende Regierungskrise, sondern auch als ein plebiszitäres Element im Grundgesetz anzusehen. Für den Appell des Bundeskanzlers an die Wählerschaft besteht demnach ein weit größerer Spielraum als die vorherrschende Verfassungsinterpretation annimmt. Der Parlamentarische Rat hat hier ein Element der „Kanzlerdemokratie“ formuliert, das bísher nur Helmut Kohl in vollem Umfang nutzte. Willy Brandt dagegen drohte nach der Ablehnung des Kanzleretats eine konventionelle Regierungskrise, die er mit der Neuwahl des Bundestages überwand.

 

Welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für die aktuelle Neuwahldiskussion? Bundeskanzler Schröder könnte sich bei seiner Begründung für die geplante Parlamentsauflösung auf die beiden Grundgedanken aus der Entstehungsgeschichte des Artikels 68 berufen. Er könnte einerseits argumentieren, angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag und der Kritik in den eigenen Reihen sei eine Fortsetzung seiner Reformpolitik nicht mehr gewährleistet. Diesem Argument würde sich der Bundespräsident kaum verschließen. Der Hinweis auf die Rolle und die Zusammensetzung des Bundesrates wäre weniger überzeugend, weil eine vorgezogenen Bundestagswahl hier keine Änderung bewirkt. Andererseits könnte Schröder unter Berufung auf den Autor des Artikel 68 Neuwahlen fordern, um die Unterstützung seiner Politik durch die Mehrheit der Wähler zu dokumentieren. Er könnte hierbei auf seinen Amtvorgänger Helmut Kohl verweisen, der sich die Bildung der schwarz-gelben Koalition  durch den Wahlerfolg vom 6. März 1983 bestätigen ließ.

 

Die hektische Debatte über die vorzeitige Auflösung des Bundestages nach Artikel 68 des Grundgesetzes ist nicht neu. Sie wurde bereits 1972 und 1982/83 mit ähnlichen Argumenten geführt. Die Ursache für die Kritik an der angeblich „unechten“ Vertrauensfrage liegt in einem super-repräsentativen Demokratieverständnis, das den Souverän nur alle vier Jahre zu Wort kommen lassen will. Gelegentlich fordert man sogar die Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre. Bezeichnenderweise wird als Alternative zur Parlamentsauflösung mittels der Vertrauensfrage nur die Selbstauflösung genannt. Die Einführung eines Volksbegehrens zur Auflösung des Bundestages, das mit der repräsentativen Demokratie durchaus vereinbar ist, spielt in der Diskussion keine Rolle.