Karlheinz Niclauß

 

Fünf Wege zur bürgernahen Demokratie, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.): Demokratie vor neuen Herausforderungen, Berlin 1999, S. 161-168

(Vortrag auf dem Demokratieforum in Speyer am 30. Oktober 1997)

 

Die Bundesrepublik Deutschland ist nach den Bestimmungen des Grundgesetzes auf Bundesebene eine nahezu reine repräsentative Demokratie. Im Rahmen der Demokratiediskussion stellt sich daher die Frage, ob Formen der unmittelbaren Demokratie, die in Ländern und Kommunen bereits praktiziert werden, auf die gesamtstaatliche Ebene übertragen werden können. Hinzu kommen sollte aber die international vergleichende Frage, welche Erfahrungen andere Ländern mit der unmittelbaren Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen gemacht haben. Hierbei stößt man auch auf  Variationen der „unmittelbaren Demokratie“, die von der deutschen Diskussion noch nicht entdeckt wurden. In der Debatte über Bürgerbeteiligung auf Bundesebene ist man schnell geneigt, entsprechende Verfassungsänderungen zu fordern und provoziert damit das Gegenargument, es gehe um die Substanz des Grundgesetzes. Deshalb ist zu prüfen, ob die Einführung direkt-demokratischer Verfahren in jedem Fall einer Änderung des Grundgesetzes verlangen. Schließlich sollte man die Verengung des Blickfeldes vermeiden. In der deutschen Diskussion besteht offenbar die Tendenz, nur einen oder zwei Wege zur unmittelbaren Beteiligung der Bürger ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Hierbei kann man leicht auf einen vermeintlichen Königsweg geraten, der sich im weiteren Verlauf als äußerst schwierig und exponiert erweist. Bei meinen Überlegungen gehe ich davon aus, dass das repräsentative System auch in Zukunft für die politische Willensbildung in modernen Demokratien maßgebend ist. Der weitaus größte Teil der Entscheidungen wird nach wie vor von gewählten Politikern (Abgeordneten, Regierungsmitgliedern) und von der Bürokratie getroffen werden. Die entscheidende Frage lautet deshalb, wie man Repräsentativsysteme durch Elemente der unmittelbaren Willensbildung ergänzen kann, ohne ihre Funktionsfähigkeit zu gefährden. Das Ziel der “fünf Wege” ist demnach nicht der Frontalangriff auf die repräsentativen Einrichtungen. Ich werde vielmehr versuchen, geeigneten Wege zur Ergänzung des politischen Systems auf Bundeseben herauszufinden.

 

Um meinen Beitrag abzukürzen und die Erläuterung von Sachverhalten zu vermeiden, die ohnehin bekannt sind, habe ich die folgende Systematik der fünf Wege zusammengestellt:

 

        1.  Sachentscheide

            a) auf Volksinitiative

            b) obligatorisch

            c) durch Staatsorgane



         2. Direktwahlen

            a) Bundespräsident

            b) Ministerpräsidenten

            c) Bürgermeister, Landräte

 

        3. Parlamentsauflösung

            durch Volksentscheid

 

        4. Wahlrecht

            offene Listen

 

        5.  Innerparteiliche Demokratie

            a) Abstimmungen zu Einzelfragen und Programmen

            b) Nominierung von Kandidaten

            c) Wahlen in Parteiämter

 

Zu 1. Sachentscheide:

 

Unter Sachentscheiden verstehe ich die Volksabstimmung über Gesetzesvorlagen, Verfassungsänderungen oder Verwaltungs-akte. Die Begriffe (Referendum, Plebiszit usw.) sind in diesem Bereich nicht eindeutig und geben zu Missverständnissen Anlass. Sinnvoll scheint mir die Unterscheidung zu sein zwischen

 

a) Abstimmungen, die durch eine Unterschriftensammlung ausgelöst werden. Ihr Ziel kann darin bestehen, ein neues Gesetz zu schaffen, beschlossenes Gesetze und Verwaltungsentscheidungen abzulehnen oder eine Verfassungsänderung vorzunehmen (Referendum und Initiative in der Schweiz). Dieses Verfahren ist sozusagen der „Sachentscheid von unten“.

 

b) obligatorische Volksabstimmungen. Sie sind in der Regel bei Verfassungsänderungen vorgeschrieben (Bayern, Hessen, nahezu alle US-Einzelstaaten). Kantone der Schweiz und Einzelstaaten der USA schreiben auch das Referendum über Staatsausgaben oder Staatschulden ab einer bestimmten Höhe vor.

 

c) Volksentscheide, die durch Verfassungsorgane (Präsident, Parlament) anberaumt werden („Sachentscheid von oben“). Hier besteht die Gefahr, dass eine günstige Situation für ein Plebiszit zugunsten der Regierenden ausgenutzt wird.

Oft spielen beim „Sachentscheid von oben“ auch taktische Überlegungen eine Rolle, die mit der Sache an sich wenig zu tun haben. Ein Beispiel hierfür ist die von Mitterand angeordnete, aber nach der Verfassung nicht notwendige Volksabstimmung über den Maastricht-Vertrag vom 22. September. 1992. Die Motive Mitterands waren offenbar, die Differenzen im Lager der „Rechten“ deutlich zu machen und das eigene Ansehen sowie die Position des Parti Socialiste aufzuwerten. Dieses riskante Manöver wäre fast gescheitert, da sich nur 51,05 % der Abstimmenden für Maastricht aussprachen.

 

Über die Vor- und Nachteile politischer Sachentscheide wurde in der deutschen Öffentlichkeit und im Rahmen dieses Forums so ausführlich diskutiert, dass ich mich auf einige Anmerkungen beschränken kann:

 

Die bisherigen Erfahrungen mit Volksbegehren und Volksentscheiden in den Bundesländern können m.E. nicht ohne weiteres auf die Bundesebene übertragen werden, da die Gesetzgebungskompetenzen der Länder sehr begrenzt sind. Über die Probleme der Wirtschafts- und Außenpolitik z.B. wird dort nicht abgestimmt. Der traditionelle “obrigkeitsstaatliche Vorbehalt” schließt in Deutschland auch Finanz- und Haushaltsfragen von den Volksentscheiden aus - eine Regelung, die man in den USA und in der Schweiz kaum verstehen würde. Die Zahl der Unterschriften für ein Volksbegehren ist in den deutschen Ländern außerordentlich hoch und beträgt z.T. 20 % der Wahlberechtigten. In der Schweiz dagegen ist für das Referendum auf Bundesebene nur die Unterschrift von ca. 1,2 % der Wahlberechtigten erforderlich.

 

Der Einfluss von Interessengruppen und politischen Parteien auf Volksbegehren und Volksentscheide wird in der deutschen Diskussion unterschätzt. Großorganisationen spielen im Abstimmungskampf eine oft entscheidende Rolle, denn sie besitzen die Mittel zur Unterschriftensammlung und zur Durchführung einer Kampagne. Auch die Rolle von privaten Agenturen beim Sammeln von Unterschriften wird in Deutschland kaum problematisiert. Eine konsequente Anwendung von Volksbegehren und Volksentscheid könnte, ähnlich wie in der Schweiz, außerdem zur Großen Koalition oder zur Allparteienregierung führen.

 

Die Frage nach den Emotionen und nach der Sachkompetenz der Stimmbürger wird in der deutschen Diskussion tabuisiert. Politiker neigen zu der Auffassung, nur die aus ihrer Sicht wünschbaren Initiativen kämen zur Abstimmung. In der Schweiz gab es seit 1970 mehrere „Überfremdungsinitiativen“, die aber vom Volk abgelehnt wurden. In Kalifornien sprach sich 1994 die Mehrheit der Abstimmenden gegen Sozialleistungen für illegale Einwanderer aus. Dieses Votum hatte allerdings vor dem kalifornischen Verfassungsgericht keinen Bestand. Bei einer Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene kämen jedenfalls Fragen von ganz anderer Brisanz zur Abstimmung als der arbeitsfreie Buß- und Bettag oder das richtige Müllkonzept.

 

Bei vielen Abstimmungen sind auch die Konsequenzen der vereinfachenden Fragestellung für den Normalbürger kaum zu erfassen. Dies gilt etwa für das schweizerische Nein zum EWR-Beitritt am 6. Dezember 1992 und die damit weitgehend blockierte Europapolitik des Landes oder für eine hypothetische Abstimmung über den Euro in Deutschland.

 

Zusammenfassend könnte man zum Komplex Volksbegehren und Volksentscheid sagen: Wenn Krankheitssymptome der repräsentativen Demokratie kuriert werden müssen, stellen diese Mittel ein Medikament dar, dessen Dosierung äußerst schwierig ist und dessen Wirkungen kaum vorauszusehen sind.

 

Zu 2. Direktwahlen:

 

Hierzu kann ich mich kurz fassen, da die Direktwahl auf Bundesebene nur für das Amt des Bundespräsidenten zur Diskussion steht. Die Argumente pro und contra sind allgemein bekannt. Wenn man einem unmittelbar gewählten Bundespräsidenten mehr Rechte einräumt, als gegenwärtig mit dem Amt verbunden sind, verändert man allerdings das politische System. Man bewegt sich dann in Richtung des französischen Präsidentialismus, der von der Verfassungskonstruktion her nicht unproblematisch ist.

Hans Herbert von Arnim hat die Direktwahl der Ministerpräsidenten in den Ländern zur Diskussion gestellt. Dieser Vorschlag ist keineswegs abwegig, denn in der Schweiz z.B. werden alle Mitglieder der Kantonsregierungen unmittelbar gewählt (H. H. v. Arnim: Staat ohne Diener. Was schert die Politiker das Wohl des Volkes? München 1993, S.324 ff.).

 

Auf kommunalpolitischer Ebene sind die Direktwahlen in Deutschland auf dem Vormarsch: Bürgermeister und Landräte werden inzwischen nicht nur in Bayern und Baden-Württemberg, sondern auch in Hessen, Rheinland-Pfalz , Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen sowie in allen neuen Bundesländern unmittelbar gewählt. Die Resultate waren bisher vorwiegend positiv, weil der „kommunale Präsident“ häufig ein Gegengewicht bildet zu den lokalen Parteistrukturen.

 

Zu 3. Parlamentsauflösung:

 

Eine weitere Möglichkeit der unmittelbaren Beteiligung ist die Parlamentsauflösung durch Volksentscheid, welche bereits in mehreren Landesverfassungen vorgesehen ist. Auf Bundesebene könnte der Volksentscheid das umstrittene Verfahren nach Art. 68 des GG ersetzen. Die Auflösung des Bundestages unter den Kanzlern Brandt und Kohl wurde ja vor allem deshalb kritisiert, weil der Regierungschef bei der Vertrauensfrage auf seine eigene Niederlage im Parlament hinarbeiten musste, um vorzeitige Neuwahlen zu erreichen.

 

Die Parlamentsauflösung durch Volksentscheid ist auch im Vergleich zu den anderen Auflösungsverfahren eindeutig die bessere Lösung: Wenn man z.B. die Selbstauflösung des Bundestags mit der Mehrheit seiner Mitglieder zulässt, hat man im Grunde ein Auflösungsrecht der Regierungsmehrheit. Wenn man eine Zweidrittelmehrheit vorschreibt, so setzt dies voraus, dass Zweidrittel der Abgeordneten vom eigenen Erfolg bei der Neuwahl überzeugt sind. Diese Situation tritt aber vergleichsweise selten ein.

 

Zu 4. Wahlrecht:

 

Die Wahlrechtsdiskussion in der Bundesrepublik wurde bisher von der Frage beherrscht, ob ein Mehrheitswahlrecht die bessere Alternative zum geltenden Bundeswahlrecht sei. Hierbei hat man das britische Wahlrecht vor Augen und unterstellt, dieses würde zum Zweiparteiensystem führen und Koalitionen überflüssig machen. Ein Blick auf die Nachbarländer und auf das deutsche Kommunalwahlrecht zeigt aber, dass auch beim Verhältniswahlrecht Variationsmöglichkeiten bestehen, die dem Wähler größeren Einfluss einräumen:

 

Die dem Wähler bei Bundes- und Landtagswahlen angebotenen Parteilisten sind „starre“ Listen. Eine Änderung der Reihenfolge oder das Streichen von Kandidaten ist nicht möglich. Der Wähler muss das von den Parteien sorgfältig geschnürte Personalpaket akzeptieren. In anderen politischen Systemen arbeitet man mit flexiblen Listen. Der schweizerische Nationalrat z. B. wird nach Kantonslisten gewählt. Der Wähler kann hier Kandidaten streichen, gegebenenfalls durch Kandidaten anderer Parteien ersetzen oder zwei Stimmen auf einen Kandidaten kumulieren. Auf einem leeren amtlichen Wahlzettel kann er auch eine eigene Liste ohne Rücksicht auf die Parteizugehörigkeit der Kandidaten zusammenstellen. Bei den letzten Nationalratswahlen vom Oktober 1995 veränderten 71 % der Wähler ihre Liste. In Luxemburg hat der Wähler die gleichen Möglichkeiten. Hier veränderten im Jahre 1994 40 % die vorgelegten Parteilisten.

 

Das deutsche Wahlrecht in Bund und Ländern würde durch die Auflösung der starren Parteilisten einen direktdemokratischen Charakter erhalten. Die eigentliche Bedeutung von „offenen Listen“ liegt jedoch in ihrer Rückwirkung auf die Kandidatenauswahl der Parteien und auf die Rekrutierung ihres politischen Personals. Da es  in diesem Wahlsystem keine sicheren Listenplätze gibt, kann das Mandat nicht mehr allein durch innerparteiliche Profilierung erreicht werden. Die Kandidaten müssten sich vielmehr frühzeitig um die Unterstützung der Wähler im ganzen Bundesland bemühen. Gleichzeitig verliert das für Parteimitglieder und Wähler nicht kontrollierbare Aushandeln der Listenplätze seine Bedeutung.

 

Zu 5. Innerparteiliche Demokratie:

 

Eine weitere Möglichkeit zur stärkeren Beteiligung der Bürger an den politischen Entscheidungen besteht schließlich im Ausbau der innerparteilichen Demokratie. Hier sind Mitgliederentscheide über einzelne Sachfragen oder über Aktionsprogramme der Parteien möglich (innerparteiliche Sachentscheide). Die FDP z. B. führte im Dezember 1995 und im November 1997 zwei Mitgliederentscheide zum „großen Lauschangriff“ und zur allgemeinen Wehrpflicht durch. Die SPD in Rheinland-Pfalz befragte im Herbst 1995 ihre Mitglieder zum Wahlprogramm für die Landtagswahl vom März 1996. Die Mitglieder der Labour Party konnten über das Manifest für die letzte Unterhauswahl abstimmen. Auch innerhalb der Parteien gilt allerdings die Unterscheidung zwischen „Sachentscheiden von oben“ und „Sachentscheiden von unten“.

 

Von größerer Bedeutung als die innerparteilichen Sachentscheide scheint mir die unmittelbare Personalentscheidung durch die Mitglieder zu sein. Hierbei geht es einerseits um die Nominierung der Kandidaten für Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen, andererseits um die Wahl in Parteiämter durch die Mitglieder. Die Kandidatennominierung steckt sozusagen im Korsett des Wahlgesetzes: Das Bundeswahlgesetz räumt zwar die Möglichkeit ein, die Bundestagskandidaten von einer Mitgliederversammlung wählen zu lassen. In der politischen Praxis stößt dieses Verfahren jedoch bereits bei der Nominierung des Wahlkreiskandidaten auf Schwierigkeiten, weil die Zahl der Parteimitglieder im Wahlkreis zu hoch ist.

 

Die CDU Nordrhein-Westfalens z. B. ließ vor der Bundestagswahl 1994 mehrere Direktkandidaten von einer Vollversammlung der Mitglieder des betreffenden Wahlkreises wählen. Der Preis für dieses Verfahren bestand allerdings darin, dass nur 15 bis 20 % der Mitglieder teilnahmen. So wurde der CDU-Kandidat für den Wahlkreis 64 mit 441 von 650 Stimmen gewählt. Die insgesamt 3.569 CDU-Mitglieder des Wahlkreises hätten im Saal, der Aula einer Realschule, keinen Platz gefunden. Zur Kandidatenwahl im Wahlkreis 65 wurden in der vollbesetzten Godesberger Stadthalle 814 Stimmen abgegeben; die Zahl der Wahlberechtigten CDU-Mitglieder belief sich in diesem Bundestagswahlkreis auf 4.953. Das Bundeswahlgesetz wirkt in diesem Zusammenhang als „Demokratisierungsbremse“: Es schließt die Urnen- oder Briefwahl von Kandidaten aus und stellt damit die Parteien vor die Wahl zwischen einer Delegiertenversammlung oder einer Mitgliederversammlung, die leicht zur Farce werden kann.

 

Bei der Aufstellung von Landeslisten zeigt sich dieses Dilemma noch deutlicher. Sie kann nach der bestehenden Rechtslage nur durch Landesdelegiertenkonferenzen erfolgen. Vor diesen Konferenzen findet ein kompliziertes Aushandlungsverfahren zwischen den Gruppen und Regionalverbänden statt, von dem die Mitglieder ausgeschlossen sind. Die einzige sinnvolle Alternative zu dieser wenig transparenten Praxis wäre die Urnen- oder Briefwahl der Landeslisten durch die Parteimitglieder. Dies ist aber nach dem Wahlgesetz nicht zulässig.

 

In anderen westlichen Demokratien hat sich inzwischen die Nominierung der Kandidaten durch die Mitglieder durchgesetzt: Die Parlamentskandidaten der Labour Party und der Konservativen für das britische Unterhaus werden von den Parteimitgliedern des Wahlkreises gewählt. In Österreich führen die beiden großen Regierungsparteien seit der Nationalratswahl von 1994 Vorwahlen durch. In der französischen Sozialistischen Partei (PS) bestimmen die Mitglieder durch Urnenwahl den Wahlkreiskandidaten. Bei den niederländischen „Demokraten ‘66“ entscheiden die Parteimitglieder über die Reihenfolge der Kandidaten auf ihrer Parteiliste. In der israelischen Likud-Partei wurde die Mitgliederwahl der Kandidaten für die Knesset und das Premierministeramt allerdings wieder abgeschafft und den 2700 Mitgliedern des Zentralkomitees übertragen (NZZ, Int. Ausgabe vom 12. und 13. 11. 1997).

 

Bei den deutschen Parteien gibt es zumindest Ansätze, den Spitzenkandidaten (oder die Spitzenkandidatin) durch eine Urwahl der Mitglieder zu nominieren. Nach einer entsprechenden Satzungsänderung der SPD ist die Mitgliederwahl des Kanzlerkandidaten jedoch nicht obligatorisch, sondern muss gegebenenfalls von 10 % der Mitglieder beantragt werden. Die  unmittelbare Wahl der Spitzenkandidaten wurde bisher nur auf lokaler Ebene praktiziert, nachdem die Ortsverbände der SPD die Statutenänderung für die Nominierung von Bürgermeistern und Landräten  übernahmen.

 

Das Partizipationsdefizit in den Parteien ist aber nicht nur bei der Kandidatenaufstellung für allgemeine Wahlen, sondern auch bei den Wahlen in Parteiämter zu beobachten: Die Struktur der deutschen Parteien wird durch das Delegiertenprinzip bestimmt. Die Mitglieder wählen in den Ortsverbänden die Delegierten  für den Kreisparteitag. Dieser wählt den Kreisvorstand und die Delegierten zum Bezirks- oder Landesparteitag. Dort werden der Landesvorstand und die Delegierten zum Bundesparteitag gewählt.

 

Sicher bestehen Ansätze, die Delegiertenhierarchie abzubauen. Die  Grünen z. B. ermöglichen die Direktwahl der Delegierten zum Bundesparteitag, und bei der SPD kann gegebenenfalls der Unterbezirk die Delegierten zum Bundesparteitag bestimmen, wenn der Bezirk dies zulässt. Es gibt aber kein überzeugendes Argument gegen eine direkte Wahl des Vorstandes sowie der Delegierten für die Landes- und Bundesparteitage durch die Mitglieder der Parteien. Dem steht allerdings das Parteiengesetz entgegen, denn es schreibt in § 9 die Wahl des Vorstandes und der Delegierten durch den Parteitag der entsprechenden Gliederung vor. Eine Brief- oder Urnenwahl ist nach Parteigesetz ausgeschlossen.

 

Wir müssen also feststellen, dass das Parteiengesetz in gleichem Maße als „Demokratisierungshindernis“ wirkt, wie das Bundeswahlgesetz bei der Kandidatennominierung. Mitgliederentscheidungen, wie die „Wahl“ Rudolf Scharpings zum SPD-Vorsitzenden am 13. Juni 1993, müssen deshalb als „Mitgliederbefragung“ deklariert und durch einen Parteitag bestätigt werden.

 

 

Resultat:

 

In modernen Demokratien bestehen mehrere Möglichkeiten zur unmittelbaren Beteiligung der Bürger an den politischen Entscheidungen. Es gibt allerdings zwischen den hier vorgestellten fünf Varianten grundsätzliche Unterschiede:

 

Der Sachentscheid ( Nr. 1) mittels Volksbegehren und Volksentscheid gilt als „Königsweg“  der unmittelbaren Demokratie. Er kann aber leicht in Konflikt zur repräsentativen Willensbildung geraten. Eine Volksabstimmung kann jederzeit ein anderes Resultat ergeben als die Mehrheitsentscheidung des Parlaments. In Abstimmungsdemokratien wie der Schweiz hat in diesem Fall der Volksentscheid Priorität, was gegebenenfalls zur Verzögerung politischer Entscheidungen führt.

 

Bei Möglichkeit Nr. 2 (Direktwahl der Exekutive) besteht das gleiche Problem, weil die politische Willensbildung hier ebenfalls auf zwei unterschiedlichen Wegen erfolgt: Ein vom Volk gewählter Präsident  kann jederzeit in einen politischen Gegensatz zur Parlamentsmehrheit geraten oder gar - wie in der Schlussphase der Weimarer Republik - in Versuchung kommen, die Volksvertretung zu manipulieren. In Frankreich muss der vom Volk gewählte Präsident gegebenenfalls bereit sein, mit der Regierung einer anderen politischen Richtung zu kooperieren, wenn die Kammerwahlen für ihn ungünstig verlaufen.

 

Bei den von mir genannten Wegen zur unmittelbaren Beteiligung nach Nr. 3 (Parlamentsauflösung), Nr. 4 (Wahlrecht) und Nr. 5 (Innerparteiliche Demokratie) besteht diese Gefahr der doppelten Willensbildung nicht. Parlamentsauflösung durch Volksentscheid, offene Listen und die Direktwahl von Kandidaten und Parteiführern wären problemlos in das parlamentarisch-repräsentative System zu integrieren. Die Verwirklichung dieser drei Wege stößt allerdings auf größere Widerstände als die Realisierung der Wege Nr. 1 und Nr. 2. Ihr Nachteil besteht vor allem darin, dass sie in sehr viel stärkerem Maße in politische Besitzstände eingreifen, als etwa der Volksentscheid in der harmlosen Form deutscher Landesverfassungen.