Karlheinz Niclauß

 

Die Bundestagswahl als Kanzlerwahl?

Personen und Parteien im Wahlkampf 2021

 

I.

Die Bundestagswahl 2021 stand im Zeichen der Kanzlerkandidaten: eine Politikerin und zwei Politiker bewarben sich um das politische Führungsamt der Bundesrepublik und bestimmten die Berichte und Kommentare in den Medien. Regierungsmannschaften, Schattenkabinette oder ministrable Persönlichkeiten spielten in diesem Wettstreit keine Rolle. Der Höhepunkt der Zuspitzung war das dreimalige „Triell“ der Fernsehanstalten – ein Duell zu dritt, bei dem sich die Kandidatin und  die beiden Kandidaten gegenseitig herausforderten. Das  Grundgesetz gibt für die Kanzlerwahl eine klare Reihenfolge vor: Zunächst finden die Wahlen zum Bundestag statt, der anschließend mit der sogenannten Kanzlermehrheit oder gegebenenfalls auch mit einfacher Mehrheit den Bundeskanzler wählt. Bei der Bundestagswahl 2021 erfolgten beide Schritte scheinbar gleichzeitig. Man fühlte sich an Ludwig Erhard erinnert, der in seinem erfogreichen Wahlkampf von 1965 den Zuhörern erklärte: „Sie wählen am 19. September nicht nur einen neuen Bundestag. Sie wählen auch den Bundeskanzler. Er steht vor Ihnen“[1].

 

Der Wahlkampf der Jahre 2020 / 2021 war von einer Personalisierung geprägt, die in anderen Demokratien mit größerer Selbstverständlichkeit akzeptiert wird als im historisch vorbelasteten Deutschland. In den USA führten das Präsidial- und das Zweiparteiensystem in der Politikwissenschaft zu zahlreichen Studien über „leadership“. Im parlamentarischen System Großbritanniens ergibt sich eine ähnliche Konstellation, weil die Parteivorsitzenden von Konservativen und Labour gleichzeitig Fraktionsvorsitzende und entweder Premierminister oder Oppositionsführer sind. Der „Leader“ ist auf diese Weise immer eindeutig definiert. Diese Eindeutigkeit von Führung und Verantwortlichkeit führt dazu, dass die politische Willensbildung in den angelsächsischen Demokratien trotz ihrer unterschiedlichen Verfassungsstruktur ähnlich ist. Michael Foley beschrieb eine zunehmende Präsidentialisierung des britischen Systems[2]. Einige Jahre später kam eine vergleichende Studie zu dem Ergebnis, dass in vierzehn Demokratien die Tendenz zur Präsidentialisierung zunimmt. Hierzu gehört auch der wachsende Einfluß der führenden Politiker (Leader) auf das Wahlverhalten der Bürger[3].

 

Personalisierung widerspricht andererseits den republikanischen Traditionen, denn die Demokratie wurde in der Regel gegen personalisierte Herrschaften durchgesetzt. Es überrascht deshalb nicht, wenn in Frankreich der Aufstieg von Charles de Gaulle und der Übergang zur Fünften Republik zu mehreren Studien über die Personalisierung der Wahlen und der Regierungstätigkeit führten[4]. Als Ergebnis dieser Diskussion wurde Personalisierung nicht als demokratiefeindliches Element verstanden. Sie sei vielmehr im Gegensatz zum Nationalsozialismus, zum italienischen Faschismus oder zum kommunistischen Personenkult in die demokratischen Verfassungssysteme integriert[5]. Maurice Duverger glaubte, einen Übergang zur republikanischen Monarchie zu erkennen und beschrieb, wie die Demokratien ihre Könige wählen[6]. In der Bundesrepublik war diese Personalisierung seit Beginn der fünfziger Jahre ebenfalls deutlich erkennbar, wurde aber kaum systematisch untersucht. Konrad Adenauer war der unbestrittene Leader in der Innen- und Außepolitik. Seine für längere Zeit regierenden Nachfolger Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel erreichten später eine ähnlich dominierende Position. Selbst die kurzfristigen Kanzler Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt profitierten vom „Kanzlereffekt“ und erzielten überzeugende Wahlergebnisse, was allerdings im Falle Kiesingers den Verlust des Kanzleramts in der Bundestagswahl 1969 nicht verhinderte.

 

Die genannten Beispiele für Personalisierung in demokratischen Systemen beziehen sich alle auf den Leader im Amt. Als Präsident oder Premierminister, der häufig auch Parteiführer der größten Regierungspartei war, bestritten sie den Wahlkampf aus der Regierungsposition. Dies gilt auch für Ludwig Ehrhard, der in seiner oben zitierten Wahlkampfrede fortfuhr: „Ich gestehe offen ein, ich will und werde Bundeskanzler bleiben“. Das Besondere des deutschen Wahlkampfes von 2021 war jedoch, dass alle Kandidaten ohne den Amtsbonus des Regierungschefs antraten. An die Stelle des Duells zwischen Kanzler oder Kanzlerin und Oppositionsführer trat die gegenseitige Konkurrenz dreier Bewerber. Deshalb liegt es nahe, die Fragestellungen und Ergebnisse der bisherigen Forschungen über den Leader im Amt auch auf die Kandidaten ohne Amt zu übertragen.

 

In diesem Fall ergeben sich alte und neue Fragestellungen: Zunächst wird man die Frage stellen, ob die Wähler in erster Linie die Partei oder ihren Kandidaten wählen. Falls sich herausstellen sollte, dass der Kandidat oder die Kandidatin größeres Gewicht haben , wird man nach den Konsequenzen für das politische System und insbesondere für die Parteien fragen müssen. Außerdem geht es um die Bedeutung personalisierter Wahlen für die bisherige Analyse des Wahlverhaltens: Die Cleavage-Theorie zum Beispiel geht davon aus, dass der Wähler seine Entscheidung aufgrund seiner sozialen Bezüge fällt. Seymour M. Lipset und Stein Rokkan, um zwei Vertreter dieses Ansatzes zu nennen, schildern, wie mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts das Parteiensystem und das Wahlverhalten im Westen Europas durch die Unterscheidungslinien in den Gesellschaften bestimmt wurde. Beispiele hierfür sind unterschiedliche Religionen, der Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Stadt- und Landbevölkerung oder zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Diese „Cleavages“ sind demnach bis in die Gegenwart wirksam. Die Parteien haben die Aufgabe, über die Trennungslinien in der Gesellschaft hinweg „Packages“ zu schnüren und dem Wähler als ihr Programm vorzulegen[7]. Fraglich ist, ob dieses Bild vom Wahlvorgang ausreicht, oder durch eine personelle und psychologische Komponente ergänzt werden muß.

 

II.

Vor der theoretischen Erörterung sollte jedoch der Blick auf die Eigentümlichkeiten der deutschen Wahlkampagene von 2020/21 gerichtet werden: Als Angela Merkel nach den schlechten CDUCSU-Ergebnissen bei den bayrischen und hessischen Landtagswahlen vom Oktober 2018 ankündigte, auf dem für Dezember 2018 geplanten Parteitag nicht mehr für den Vorsitz der CDU zu kandidieren, wurde dies von der Parteispitze als weise und mutige Entscheidung bewertet. Merkels gleichzeitig verkündete Absicht, bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahre 2021 Kanzlerin zu bleiben und anschließend ihre Rolle in der Politik zu beenden, sollte sich allerdings als problematisch erweisen. Diese Festlegung bedeutete einen Bruch mit dem Verfahren zum Kanzlerwechsel, das von den führenden Regierungsparteien bis dahin befolgt wurde: Seit dem Übergang von Konrad Adenauer zu Ludwig Erhard und von Erhard zu Kurt Georg Kiesinger war die CDU bestrebt, den Wechsel im Kanzleramt in die Legislaturperiode zu verlegen, damit der neue Kanzler Anlauf für die nächste Bundestagswahl nehmen und vom Kanzlerbonus profitieren konnte. Vor der Bundestagswahl 1998 scheiterte dies am Beharrungsvermögen Helmut Kohls. Bei den Sozialdemokraten erfolgte der Kanzlerwechsel von Willy Brandt  zu Helmut Schmidt, für den nicht nur die Guillaume-Affäre ausschlaggebend war, ebenfalls  rechtzeitig vor der Bundestagwahl von 1974. Die CDU-Führung ließ diese Möglichkeit in den Jahren 2020 und 2021 ungenutzt. Man konnte deshalb voraussehen, dass der Kanzlerkandidat der Union während des Wahlkampfes nicht über das „Amtscharisma“ im Sinne Max Webers verfügte, welches viele seiner Vorgänger hatten[8].

 

Die Nominierung von Armin Laschet zum Kanzlerkandidaten der Union verlief auch unabhängig von dieser Hypothek nicht in gewohnten Bahnen: Erhard und Kiesinger wurden durch ein Votum der gemeinsamen Bundestagsfraktion von CDU und CSU nominiert, ebenso wie die gescheiterten Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß, Rainer Barzel und Edmund Stoiber. Die  Konkurrenz zwischen den beiden Parteivorsitzenden Armin Laschet und Markus Söder konnte jedoch nicht, wie im Jahre 2002 zwischen Merkel und Stoiber, bei einem gemeinsamen Frühstück beigelegt werden. An einer Entscheidung durch die Bundestagsfraktion war die CDU-Spitze offenbar nicht interessiert, weil hier ein Mehrheitsvotum für Söder nicht auszuschließen war. Laschet wurde schließlich vom Vorstand der CDU als Kanzlerkandidat nominiert und gegenüber der CSU durchgesetzt, obwohl Söder nach den allgemeinen Umfragen und den Umfragen bei CDU-Anhängern als der aussichtsreichere Kandidat galt.

 

Die Sozialdemokraten kamen ebenfalls nur auf Umwegen zu ihrem Kanzlerkandidaten: Der Parteivorstand beschloß im Juni 2019 zunächst eine Mitgliederbefragung zur Wahl des Parteivorsitzes. Hierbei sah die Parteiführung nach dem Vorbild der Grünen die Wahl einer Doppelspitze vor. Die Kandidaten sollten als weiblich-männliches Zweierteam antreten, obgleich Einzelbewerber nicht ausgeschlossen waren. Man erhoffte sich von diesem Verfahren auch Hinweise auf die Kanzlerkandidatur, da dem Parteivorsitzenden bisher das Zugriffsrecht auf diese Position zugebilligt wurde. Im Zuge der Mitgliederbefragung fanden 23 Regionalkonferenzen statt, auf denen sich sechs Kandidatenpaare für den Vorsitz präsentierten. Nach dem ersten Wahlgang am 26. November 2019 war eine Stichwahl zwischen den Teams Klara Geywitz / Olaf Scholz und Saskia Esken / Norbert Walter-Borjahns notwendig, die letztere überraschend gewannen.

 

Das Ergebnis brachte die engere Parteiführung in Verlegenheit, weil es einen Rückschlag für den von Vorstand und Fraktion als Kanzlerkandidaten favorisierten Finanzminister Scholz bedeutete. Ein Konflikt zwischen der Mitgliederpartei sowie der Partei in Regierungsämtern und in der Fraktion schien sich anzubahnen. Auf dem anschließenden Parteitag vom 6. bis 8. Dezember 2019 wurde diese Gefahr gebannt: Die neuen Vorsitzenden wurden in Ihren Ämtern bestätigt. Die in ihrem Lager erhobene Forderung nach Beendigung der Großen Koalition trat in den Hintergrund. Saskia Esken erklärte in ihrer Rede, man werde der Koalition eine „realistische Chance“ einräumen und Klara Geywitz, die Partnerin von Scholz bei der Vorsitzendenwahl, wurde als eine der stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt[9]. Angesichts des Burgfriedens im sozialdemokratischen Lager war es kaum überraschend, dass der SPD-Parteivorstand am 10. August 2020 Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten nominierte. Vom Establishment der Partei gab es hierzu einhellige Zustimmung, während in den sozialen Netzwerken Kritik an Scholz geäußert wurde[10].

 

Bei den Grünen / Bündnis 90 amtierten seit Januar 2018 Annalena Baerbock und Robert  Habeck gemeinsam als Parteivorsitzende (Sprecher). Sie wurden im November 2019 auf dem Parteitag in Bielefeld in ihren Ämtern bestätigt. Zu dieser Zeit war die Frage einer Kanzlerkandidatur in der Partei noch kein offenes Thema. Die Grünen lagen allerdings nach den Befragungen des Politbarometers zu diesem Zeitpunkt mit 23 Prozent knapp hinter der CDU/CSU (27 Prozent) an zweiter Stelle und vor der SPD (13 Prozent). Robert Habeck nahm hinter Angela Merkel bei der Sympathiebewertung „top ten“ den zweiten Platz ein[11]. Auf dem digitalen Bundesparteitag der Grünen vom 20. bis 22. November 2020 hielt Habeck eine eindrucksvolle Rede, die als indirekte Bewerbung für die Kanzlerkandidatur interpretiert werden kann[12]. Die Grünen blieben allerdings bei der Linie, die Frage der Kandidatur werde zwischen den beiden Parteivorsitzenden ausgemacht. Am 19. April 2021 stellte Habeck selbst Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin vor – eine Entscheidung, die im Juni vom Parteitag von 95,8 Prozent der Delegierten bestätigt wurde.

 

Auffällig an diesen Nominierungen ist der Vorbehalt gegenüber basisdemokratischen Verfahren. Am deutlichsten kommt dies bei der SPD zum Ausdruck. Hier sieht das Organisationsstatut die Urwahl des Kanzlerkandidaten oder der Kanzlerkandidatin vor[13].  Diese Möglichkeit wurde aber nach der Wahl des Vorstandspaares Esken /Walter-Borjahns nie diskutiert. Bei der CDU/CSU wäre eine Wahl durch die Bundestagsfraktion die „klassische Variante“ gewesen, weil die Fraktion die gemeinsame Basis der beiden Parteien bildet. Bei den Grünen wurde die Entscheidung über die Kandidatur den beiden Vorsitzenden übertragen und fand, zumindest nach außen hin, im Privatissimum zwischen Baerbock und Habeck ohne Beteiligung der „Basis“ statt. Als die Entscheidung für Baerbock fiel, lagen die beiden Vorsitzenden bei der Frage nach der Kanzlertauglichkeit bei den Anhängern der Grünen gleichauf. Auf die Frage, mit wem ein besseres Ergebnis bei der Bundestagswahl zu erreichen sei, entschieden sich aus der Gesamtwählerschaft 42 Prozent für Habeck und 29 Prozent für Baerbock. Bei den Anhängern der Grünen lag allerdings bei dieser Frage Annalena Baerbock mit 44 zu 43 Prozent knapp vor Habeck[14].

 

Was den Zeitpunkt der Nominierung betrifft, gab es deutliche Unterschiede: Die Benennung von Scholz ein Jahr vor der Bundestagswahl schien mit dem Risiko verbunden zu sein, dass der Kandidat allzulange in den Medien präsent ist und an Zugkraft verliert. Die Nominierung von Baerbock und Laschet erfolgte dagegen zu spät. Fünf Monate einschließlich Ferienzeit waren für die Vorbereitung einer auf die Kandidaten zugeschnittenen Kampage zu kurz. Der Zeitdruck erklärt möglicherweise auch die Pannen Baerbocks und die Inhaltsarmut der Kampagne Laschets. Obwohl sich  keiner der Kandidaten auf den Kanzlerbonus stützen konnte, hatte Armin Laschet einen Vorteil: Er war Ministerpräsident des größten Bundeslandes und verfügte damit über eine Ausgangsposition, die frühere Kanzler wie Kiesinger, Brandt und Schröder zu ihrem Vorteil nutzten. Olaf Scholz konnte als Stellvertreter Angela Merkels einen Teil ihres Amtsbonus übernehmen. In der Coronakrise und bei der Flutkatastrophe im Westen Deutschlands war er zudem als Finanzminister für die finanziellen Unterstützungsmaßnahmen zuständig. Annalena Baerbock befand sich demgegenüber in einer schlechteren Position, weil sie über keine Erfahrung in einem Regierungsamt verfügte. Weder die Kandidatin noch ihre beiden Mitbewerber bestritten den Wahlkampf mit einer „Mannschaft“ potentieller Kabinettsmitglieder. Nur Armin Laschet stellte im September kurz vor der Wahl ein achtköpfiges Team vor, das im Hinblick auf zukünftige Regierungsmitglieder wenig überzeugend war.

 

Mit der Nominierung zweier Kandidaten und einer Kandidatin für das Kanzleramt begann ein Wahlkampf, der durch eine überraschende Volatilität der Umfragen gekennzeichnet war. Dies gilt sowohl für die Parteien, als auch für die Kanzlerkandidaten. In der Masse der Umfragedaten, die von den Medien an die Wähler weitergeleitet wurden, lassen sich deutliche Brüche und Verschiebungen erkennen. Als erste waren hiervon Annalena Baerbock und die Grünen betroffen. Nach ihrer Nominierung hatte die grüne Kanzlerkandidatin einen guten Start: Bei der Frage nach der Eignung für das Amt des Bundeskanzlers führte sie Anfang Mai mit 43 Prozent knapp vor dem SPD-Kandidaten Olaf Scholz und mit deutlichem Abstand vor Armin Laschet. Gleichzeitig lagen die Grünen bei den Umfragen mit 26 zu 25 Prozent vor den Unionsparteien[15].

 

Im Juni änderte sich die Stimmung zu Lasten Baerbocks und der Grünen: Nur noch 28 Prozent hielten die grüne Spitzenkandidatin für kanzlertauglich und die Zustimmmung zu ihrer Partei sank um drei Punkte auf 22 Prozent[16]. Bei der fiktiven Kanzlerwahl des ARD-Deutschlandtrends verzeichnete Baerbock einen Rückgang von 28 auf 16 Prozent. Bei der Frage nach der Wahlabsicht verloren die Grünen innerhalb eines Monats sieben Prozentpunkte, von 26 auf 19 Prozent[17]. Die Gründe hierfür waren eine verspätete Meldung des Parteihonorars für Baerbock an den Bundestagspräsidenten und Ungenauigkeiten in ihrem Lebenslauf. Hinzu kam, dass ihr Buch „Jetzt. Wie wir unser Land erneuern“, in dem sie ihre politischen Ziele erläuterte, von Plagiatsjägern wie eine Dissertation durchleuchtet wurde. Berbock blieb seitdem bei der Kanzlerfrage auf dem dritten Platz. Auch die Flutkatastrophe im Westen Deutschlands brachten für die grüne Kandidatin und ihre Partei lediglich eine vorübergehende Verbesserung von zwei, bzw einem Prozentpunkt[18]. Kurz vor der Bundestagswahl waren nur noch 15 Prozent bei der fiktiven Kanzlerwahl bereit, Baerbock ihre Stimme zu geben. Gleichzeitig mit dem Rückgang der Sympathiewerte für Annalena Baerbock verlor auch ihre Partei an Zustimmung. Die Grünen sanken bis zum September 2021 in der Wählergunst kontinuierlich bis auf 16 Prozent[19]. Ausschlaggebend hierfür war die Kritik an der Person Baerbocks. An diesem Beispiel zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Bewertung der Kanzlerkandidatin und ihrer Partei. Die Umfragewerte für die Partei folgten offenbar der sinkenden Wertschätzung für die Spitzenkandidatin.

 

Die CDU/CSU hatte bereits vor der Nominierung ihres Spitzenkandidaten unter wechselnden Umfragewerten zu leiden. Nach den Verlusten bei den Landtagswahlen in BadenWürttemberg und Rheinland-Pfalz im März 2021 sanken ihre Zustimmungswerte von 35 Prozent auf 28 Prozent. Neben der Verwicklung von CDU-Abgeordneten in fragwürdige Masken-Geschäfte mag hierzu der von Merkel vorgeschlagene und später widerrufene Corona-Shutdown zu Ostern beigetragen haben. Einen Monat später verbesserten sich die Unionsparteien wieder auf 31 Prozent und führten mit 10 Prozentpunkten vor den Grünen /Bündnis 90. Kennzeichnend für den Vorwahlkampf war außerdem der Vorsprung des Bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) vor allen anderen Bewerbern: 56 Prozent hielten ihn im März 2021 für kanzlertauglich, während Armin Laschet bei dieser Frage nur auf 23 Prozent kam. Dieser Abstand sollte auch nach der Nominierung von Laschet  am 19. April bestehen bleiben. Mit dem neuen Kanzlerkandidaten ging die Zustimmungskurve der Unionsparteien zunächst auf  24 Prozent zurück und stieg im Juni nach dem Wahlerfolg der CDU bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt (6. Juni 2021) wieder auf 30 Prozent. Potentieller Koalitionspartner waren zu diesem Zeitpunkt die Grünen, die trotz der beginnenden Entzauberung ihrer Kanzlerkandidatin bei 22 Prozent lagen. Laschet führte zu diesem Zeitpunkt bei der fiktiven Kanzlerwahl der Forschungsgruppe Wahlen mit 34 Prozent vor seinen Konkurrenten Scholz (26 Prozent) und Baerbock (24 Prozent)[20].

 

Mit der Flukatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen in der Nacht vom  14./15. Juli 2021 verlor Armin Laschet deutlich an Zustimmung: Bei der fiktiven Kanzlerwahl fiel er von 37 Prozent auf 29 Prozent zurück, während  Olaf Scholz mit einem Zugewinn von sechs Prozentpunkten an die erste Stelle rückte[21]. Im Deutschlandtrend verlor Laschet bei der Frage nach der Politikerzufriedenheit 13 Prozentpunkte und rutschte auf den neunten Platz unter zwölf Spitzenpolitikern[22]. Die Ursachen hierfür sind nicht nur in Laschets Lachen während der Rede des Bundespräsidenten im vom Hochwasser zerstörten  Erfttal am 17. Juli zu sehen, sondern auch in der aggressiven Haltung der Betroffenen bei seinem Besuch vor Ort[23]. Die Medien beurteilten seine Klimapolitik in Nordrhein-Westfalen kritisch. In einem Kommentar der ARD-Tagesschau wurden ihm bereits am Abend des 15. Juli zu viel Rücksichtnahme auf Industrieinteressen und eine Verzögerung des Ausbaus der Windkraft vorgeworfen[24]. In der WDR-Sendung „Aktuelle Stunde“ antwortete Laschet mit wenig Geschick auf die Fragen der Reporterin nach Konsequenzen aus der Katastrophe: „Entschuldigung . . .weil jetzt so ein Tag ist, ändert man nicht die Politik“[25].

 

Ein weiteres Handicap Laschets war der Schatten Markus Söders: Während  der Bayrische Ministerpräsident die Entscheidung über den Kanzlerkandidaten anerkannte und Laschet Unterstützung zusagte, forderte er mehrfach einen aggressiven Wahlkampf der Union. Die Sticheleien gegen Laschet aus München blieben bis zum Wahltag nicht aus[26]. Gleichzeitig lag Söder in der Politikerbewertung mit Abstand vor Laschet: Eine Forsa-Umfrage sah Söder zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Politiker-Ranking mit 53 Punkten hinter Merkel und Scholz, während Laschet mit 30 Punkten an zehnter Stelle folgte[27]. Bei der fiktiven Kanzlerwahl erreichte der Unionskandidat im August anfangs noch 21 und gegen Ende des Monats nur noch 17 Prozent. Im September konnte sich Laschet allerdings bei der Kanzlerpräferenz wieder auf  22 Prozent verbessern[28].

 

Die Umfragewerte der CDU/CSU folgten dem Negativtrend des Kanzlerkandidaten mit Verzögerung. Die Zustimmung zur Union sank nach der Projektion der Forschungsgruppe Wahlen nach der Flutkatastrophe Ende Juli zunächst nur um zwei Prozentpunkte auf 28 Prozent. Anfang August ging die  Zustimmung auf 26 und gegen Ende des Monats auf 22 Prozent zurück. Im September blieb dieser Wert bei den drei Umfragen der Forschungsgruppe unverändert. Während der Spitzenkandidat mit der Flut einen Einbruch erlebte und sich erst kurz vor der Bundestagswahl ein wenig erholte, steuerte die CDU/CSU im Sinkflug ihr Wahlergebnis an, das dann doch besser ausfiel als von der Forschungsgruppe Wahlen und vom ARD-Deutschlandtrend vorausgesagt[29].

 

Den auffälligsten Zusammenhang zwischen Kandidateneinschätzung und Parteibewertung gab es bei den Sozialdemokraten: Ihr Kanzlerkandidat Olaf Scholz lag zu Beginn des Wahljahres bei der Frage nach der Eignung zum Kanzler gut im Rennen: Nach dem Bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder (54 Prozent) nahm er mit 45 Prozent den zweiten Platz ein, mit deutlichem Abstand vor Laschet, Habeck und Baerbock[30]. Nach der Nominierung von Baerbock und Laschet lag Scholz bei der Frage nach der Kanzlertauglichkeit mit 42 Prozent knapp hinter Baerbock (43 Prozent), aber deutlich vor Laschet, dem 37 Prozent das Kanzleramt zutrauten[31]. Anfang Juni überholte Scholz Laschet bei der gleichen Frage mit 48 zu 43 Prozent, während Baerbock mit 28 Prozent gegenüber Anfang Mai 15 Prozentpunkte verlor. Trotz der Führung ihres Kanzlerkandidaten kam die SPD bis zum Juli 2021 bei der Sonntagsfrage nur auf 15 Prozent. Die Bürger schienen vorübergehend einen Kanzler Olaf Scholz an der Spitze einer schwarz-grünen Regierung zu bevorzugen. Anfang Juli lag Armin Laschet bei der Kanzlerfrage mit 37 Prozent Zustimmung wieder deutlich vor Scholz und Baerbock (28 und 18 Prozent)[32].

 

Mit der Hochwasserkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen änderte sich die Stimmung. Der Themenbereich Klima und Umwelt gewann zunehmend an Bedeutung und verdrängte das Thema Corona von der ersten Stelle der Aufmerksamkeitsskala. Seit Ende Juli führte Scholz nach dem Rückschlag für Laschet (minus 12 Prozent) unangefochten vor seinen beiden Mitkonkurrenten[33]. Während ihr Kanzlerkandidat Ende Juli 2021 die Führung im Kandidatenrennnen übernahm, verbuchte die SPD nur einen Punkt Zuwachs auf 16 Prozent. Nach 19 Prozent Zustimmung Anfang August erreichten die Sozialdemokraten gegen Ende dieses Monats mit 22 Prozent den Gleichstand mit der Union. Erst im Wahlmonat September führten die Sozialdemokraten bei den drei Umfragen des Politbarometers mit 25 zu 22 Prozent vor den Unionsparteien. Der ARD-Deutschlandtrend von Infratest-dimap verzeichnete Werte, die hiervon nur geringfügig abweichen: Anfang September führte hier Olaf Scholz  bei der fiktiven Kanzlerwahl mit 43 Prozent vor Laschet (16 Prozent) und Baerbock (12 Prozent). Die SPD verrbesserte sich von Anfang August bis Anfang September um sieben Punkte und kam auf 25 Prozent[34]. An diesen Beispielen wird deutlich sichtbar, dass die Zustimmungwerte der SPD dem Erfolgskurs ihres Kanzlerkandidaten erst mit Verzögerung folgten. Scholz war das Zugpferd seiner Partei.

 

Der enge Zusammenhang zwischen Partei- und Kandidatenbewertung gilt auch für die FDP: Die  Liberalen rangierten bei den Umfragewerten stets an vierter Stelle. Sie stellten keinen Kanzlerkandidaten auf, orientierten sich aber am Vorgehen der drei größeren Parteien und setzten ihre Kandidatenstrategie zum Teil konsequenter um als diese. Ihr Wahlkampf war voll und ganz auf den Parteivorsitzenden Christian Lindner zugeschnitten. Obwohl die Liberalen über mehrere ministrable Kandidaten und Kandidatinnen verfügen, wurden diese im Wahlkampf kaum sichtbar. Rivalitäten zwischen den führenden liberalen Politikern waren von außen nicht zu erkennen. Die FDP war in diesem Punkt noch geschlossener als die Sozialdemokraten. Kennzeichnend für ihre Strategie war  die Festlegung Lindners auf drei Kernforderungen. Auch in diesem Punkt agierte sie ähnlich, aber konsequenter als der SPD-Kanzlerkandidat. In der Politikerbewertung des Deutschlandtrends lag Lindner seit April 2021 zwischen der fünften und achten Stelle unter 12 Spitzenpolitiker[35]. Er hatte im Gegensatz zu den Kanzlerkandidaten aber kaum Schwankungen in seiner Zustimmungskurve. Lindner verstand es, durch sein jugendliches Image neben der besser situierten Stammklientel der FDP auch Jungwähler an sich zu binden, indem er ihnen Digitalisierung sowie Freiheiten auf und neben der Autobahn versprach.

 

Während sich die Konzentration auf den Spitzenkandidaten für die FDP positiv auswirkte, fehlte bei der AFD und bei der Linkspartei die Klarheit über den Leader. Beide traten mit einer Doppelspitze an. Bei Alice Weidel und Tino Chrupalla  war nicht ganz klar wie sie im Spektrum zwischen Björn Höcke und Jörg Meuthen einzuordnen und welchem Flügel der Partei sie zuzurechnen waren. Bei den Linken verfügte nur Dietmar Bartsch über einen größeren Bekanntheitsgrad, während Janine Wissler neu in der Bundespolitik war. Auch hier fehlte der zugkräftige Spitzenkandidat. Das Nein der Linken zur verspäteten Rettungsaktion für gefährdete Personen in Afghanistan  kurz vor dem Wahltermin war ein weiterer Grund für das schwache Wahlergebnis. Ein Spitzenkandidat, wie zum Beispiel der Ministerpräsident von Thüringen, hätte wahrscheinlich zu einem besseren Resultat geführt.

 

III.

Nach der Präsentation der Daten über die Bewertung von Parteien und Spitzenkandidaten stellt sich erneut die  Frage: „Wählen die Wähler Parteien oder Personen?“. Auf der einen Seite wird die Meinung vertreten, der Einfluß der Kandidaten auf das Wahlergebnis sei in den letzten Jahren sehr begrenzt gewesen. Max Kaase behauptete 1994, es bestehe kaum eine Differenz zwischen der Bewertung von Partei und Kanzlerkandidat[36]. Eine umfangreiche Datenanalyse aus sechs europäischen Ländern kam zehn Jahre später zu dem Ergebnis, die Bewertung der Kandidaten gehöre zu den kurzfristigen Einflüssen, die in den letzten drei Jahrzehnten wichtiger geworden seien. Ihre Bedeutung nehme zu, wenn die Parlamentswahlen zu Präsidentenwahlen werden. In den übrigen parlamentarischen Systemen verhindere die nach der Wahl notwendigen Koalitonsbildung eine zunehmende Personalisierung[37].

 

Der enge Zusammenhang zwischen der Einschätzung der Kandidaten und der Bewertung ihrer Parteien ist allerdings angesichts der Umfragedaten kaum zu leugnen. Die Kanzlerkandidaten zogen mit ihren wechselnden  Zustimmungswerten ihre Parteien herauf und herunter. Sie dienten sozusagen als Fahrstuhlführer im Auf und Ab der Wahlkampagne, sind aber selbst abhängig von den Stimmungen der Wählerschaft. Beispiele für diesen Effekt gab es bereits in der „alten“ Bundesrepublick: Arnold Heidenheimer unterschied unter dem Eindruck der Wahlerfolge Konrad Adenauers zwischer der Zustimmung zum Kanzler und zur CDU/CSU. Der größte Teil der Wähler, die sogenannten „Kanzlergetreuen“, wähle den Kanzler und nicht seine Partei[38]. Vieles spricht dafür, dass auch im Jahre 2021 viele Wähler für den Kanzlerkandidaten oder die Kandidatin optierten anstatt für die betreffende Partei. Während frühere Wahlkämpfe sich häufig durch die Mobilisierung der „Partei des Kanzlers“ auszeichneten, wurden im jüngsten Bundestagswahlkampf die Anhänger der Parteien durch die Bewertug ihrer Kanzlerkandidaten mobilisiert oder auch demobilisiert. Die Dominanz der Spitzenkandidaten ist bei den Landtagswahlen ebenfalls zu beobachten, wirkt sich hier aber in der Regel zu Gunsten des Ministerpräsidenten oder der Ministerpräsidentin aus.

 

Weitgehend offen bleibt zunächst, welche Konsequenzen sich aus der erneuten Zunahme der Personalisierung für die Parteien ergibt. Die Annahme, ein Wahlsieg seiner Partei sei für den Kanzlerkandidaten die Voraussetzung für die Übernahme des Kanzleramts, gilt nun in umgekehrter Reihenfolge: Der Wahl- und Meinungssieg des Kandidaten bildet die Grundlage für den Wahlerfolg seiner Partei. Das erstaunlichste Ergebnis der Bundestagwahl von 2021 war, dass in einem Mehrparteiensystem mit drei Kanzlerkandidaten der Sieger eindeutig fest stand. Maurice Duvergers These von der faktischen Direktwahl des Regierungschefs wurde offenbar auch unter diesen schwierigen Bedingungen bestätigt[39]. Die Aufholjagd der SPD fand im Sog des Kanzlerkandidaten statt. Bei der CDU/CSU beeinflussten die Verluste im Vergleich zur Bundestagswahl 2017 (8,8 Prozent) das Koalitionsverhalten. Unter dem Eindruck seiner schlechten Umfragewerte im Vergleich zu Olaf Scholz wurde Armin Laschet für das  Abschneiden der CDU/CSU verantwortlich gemacht und mußte schließlich als Parteivorsitzender zurücktreten. Obwohl die Unionparteien nur 1,6 Prozent hinter den Sozialdemokraten lagen, blieben ihre durchaus noch bestehenden Koalitionsmöglichkeiten aufgrund ihrer internen Führungsprobleme ungenutzt. Die CDU/CSU war schnell bereit, den Wahlsieg von Olaf Scholz zu akzeptieren und  die Oppositionsrolle anzunehmen.

 

Die Annäherung an die „republikanische Monarchie“ Duvergers führt zu einer Begrenzung des Parteieneinflusses: Die erfolgreiche Partei des Regierungschefs wird zur Partei des Kanzlers und die ebenfalls erfolgreichen Koalitionspartner werden möglicherweise zu Parteien der Spitzenkandidaten. Diese haben einen größeren Spielraum als bisher. Sie stützen sich nicht mehr auf bestimmte innerparteiliche Gruppierungen, sondern auf die Zustimmung in den Medien und Umfragen. Partei ist hierbei allerdings im weiteren Sinne zu verstehen und umfaßt die Mitgliederpartei, die führenden Funktionsträger und die Bundestagsfraktion. Die Mitgliederpartei und ihre Parteitage werden, wie schon bei der Kandidatennominierung, überwiegend Akklamationsorgane bleiben. Unter den führenden Funktionsträgern haben vor allem die Ministerpräsidenten der Länder Gewicht. Sie sind Mitglieder des Bundesrates,  bestreiten die Zwischenwahlen und beeinflussen damit das Abschneiden der Parteien bei Umfragen und in den Medien. Alle Parteien waren wenig geneigt, die „Basis“ über die Auswahl ihrer Kanzlerkandidaten oder ihrer Kandidatin entscheiden zu lassen. Dies wird sich kaum ändern, weil die Vorstellungen der Parteimitglieder nicht identisch sind mit den Vorstellungen der Wählermehrheit, die der Kanzlerkandidat für sich gewinnen soll. Kaum bewährt hat sich auch die Praxis, die Nominierung des Kanzlerkandidaten oder der Kandidatin mit innerparteilichen Proporzgedanken zu verbinden, was bei CDU/CSU und den Grünen offensichtlich der Fall war.

 

Das Wahlverhalten hat sich unter dem Eindruck der zunehmenden Personalisierung verändert: Die Bindung der Wähler an eine bestimmte Partei hat sich gelockert. Ihre Orientierung wird stärker von den zur Wahl stehenden Persönlichkeiten bestimmt als durch ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen. Wenn der „Kandidatenfaktor“ bei der Wahlentscheidung höheres Gewicht hat als die gesellschaftlichen Milieus, stellt sich für Deutschland und die anderen europäischen Demokratien die Frage, ob die „klassische Theorie“ des Wahlverhaltens noch gültig ist. Die sozialen Trennungslinien (Cleavages) bestimmen offenbar die Bindung der Bürger an die Parteien nicht mehr in dem Maße, wie bisher angenommen. Tritt an die Stelle der Gruppenzugehörigkeit die direkte Verbindung zwischen den Bürgern und dem Kandidaten, bzw. der Kandidatin? Und wie ist diese Verbindung zu beschreiben und zu  benennen? Léo Hamon bezeichnete diese Beziehung in seinem abschließenden Bericht zum Kolloquium von Dijon als „incarnation“. Damit ist die natürliche Neigung der Menschen gemeint, ihre Hoffnungen und Ideologien mit Personen zu verbinden. Mit dem Übergang von der elitären Demokratie zur Demokratie des allgemeinen Wahlrechts richte sich der Blick der Bürger auf Politiker, die sie kennen und die sie durch ihre Zustimmung an die Macht bringen oder gegebenenfalls auch stürzen können. Gefördert wird die als Incarnation bezeichnete Personalisierung außerdem durch die schnellen Veränderungen in nahezu allen Lebensbereichen, denen der moderne Mensch ausgesetzt ist. Er benötigt deshalb einen Tutor, der ihn beruhigt und die Richtung weist[40].

 

Differenzierter sind die Überlegungen von Jacques Ellul, dessen umfassende Studie zur Propaganda von 1962 nach sechzig Jahren in deutscher Übersetzung neu aufgelegt wurde.

Die politische Propaganda wird demnach nicht nur im Interesse der Politiker  und ihrer Berater betrieben. Sie entspricht auch dem Bedürfnis der Menschen. Der Grund hierfür ist das Geflecht von Abhängigkeiten und Beschränkungen, in dem sich der moderne Mensch befindet. Er fühlt sich zur Passivität gezwungen, fremd bestimmt und als Person herabgesetzt (minorisé). Dieses Gefühl der Reduktion (sentiment de reduction) veranlaßt ihn zur Suche nach einer Entschädigung für seinen Verlust an Selbstvertrauen. Die Propaganda biete ihm einen Ausweg aus dieser Situation. „Von dem Moment an, da ich durch Propaganda politisiert werde, schwebe ich über den Zufälligkeiten des alltäglichen Lebens“ schreibt Ellul [41].

 

In seinem Beitrag zum Kolloquium von Dijon stelllt Ellul die Verbindung her zwischen Propaganda und Personalisierung. Propaganda führe auch dann zur Personalisierung, wenn die Politiker selbst dies nicht beabsichtigen, weil sie den modernen Menschen aus seiner beengten Situation befreie. Das Mittel hierzu ist nach Ellul der psychlogische Prozess der projektiven Identifikation. Die persönliche Aufwertung wird durch eine zwischengeschaltete Person (personne interposée) erreicht. Dies kann ein Sportidol, ein Fersehstar, eine königliche Hoheit, aber auch ein Politiker sein. Im letzten Fall glaubt der Betreffende am Einfluß seines Vorbilds zu partizipieren. Dies gilt im gleichen Maße für Kanzlerkandidatinnen und -kandidaten, obwohl deren Einfluß erst nach erfolgreicher Wahl zur Geltung kommt.

 

Ein zweiter Aspekt ergibt sich aus der Kompexität der politischen Probleme und der politischen Institutionen. Der Bürger hat hierfür nach der demokratischen Theorie eine eigene Verantwortung, ohne diese wahrnehmen zu können. Die These Jacques Elluls lautet: Je demokratischer eine Gesellschaft sei, desto stärker werde das Verlangen nach Leadership. Sie entspringt dem Bewußtsein der Bürger, selbst keine Lösungen für die anstehenden Probleme zu besitzen. Die Vorschläge der sozialen Organisationen (organisations pseudodemocratiques) seien für den Normalbürger nicht überzeugend.  Die „Personalisierung der Macht“ dagegen spiele in der Volkspsychologie eine große Rolle. Deshalb sei es naheliegend, einem Mediateur die politischen Führung und dieVerantwortung zu übertragen. Hier liegen nach Ellul die Gründe dafür, dass die auf Institutionen und Kompetenzen gestützte Analyse von Leadership an ihre Grenzen stößt. Der Leader sei nicht nur derjenige, der Entscheidungen fällt und seine Autorität ausübt. Er verkörpere die Gruppe, die ihn anerkenne und durch ihn mit dem „Mysterium der Macht“ verbunden sei [42].

 

Jean Blondel und Jean-Louis Thiébault zeichneten fast 50 Jahre später ein aktuelleres Bild von der Verbindung zwischen Bürger und Leader, das auch für die Verbindung zwischen Bürgern und Kanzlerkandidaten gilt. Aus ihrer Sicht sind die Parteien in den  USA von jeher auf ihre Spitzenkandidaten zugeschnitten. Sie hätten deshalb eine bessere Bindung zu den Wählern, als die auf soziale Milieus gestützten Parteien in Europa. Aber auch in einzelnen westeuropäischen Ländern setze sich die personalisierte Leadership durch. Personalisierung sei hier oft verbunden mit einem politischen Reformkurs, wie die Beispiele Tony Blair, Felipe Gonzales, Francois Mitterand und Gerhard Schröder zeigten. Gleichzeitig entstanden auf der rechten Seite des politischen Spektrums neue Parteien unter personalisierter Führung. Die beiden Autoren nennen in diesem Zusammenhang u.a. Jean-Marie Le Pen in Frankreich, Pim Fortijn in den Niederlanden, Christoph Blocher in der Schweiz, Jörg Haider in Österreich und Umberto Bossi in Italien[43].

 

In der alten Bundesrepublik und im wiedervereinigten Deutschland war die Personalisierung der Macht immer gegenwärtig und wird durch die lange Amtszeit dreier Bundeskanzler (Konrad Adenauer, Helmut Schmidt, Helmut Kohl) und einer Kanzlerin (Angela Merkel) bestätigt. Angesichts der Erfahrungen mit autoritären und totalitären Führern wurde der unbestreitbare Sachverhalt in Deutschland gerne verdrängt. Noch heute zögert man, die Vokabel „Leader“ korrekt ins Deutsche zu übertragen. Als der Begriff „Kanzlerdemokratie“ zu Beginn der fünfziger Jahre gebräuchlich wurde, war er zunächst im abwertenden Sinn und als Warnung vor autoritärer Machtausübung gemeint[44]. Ob Personalisierung als Fortschritt oder als Rückfall in obrigkeitsstaatliches Verhalten zu bewerten sei, wird deshalb unterschiedlich interpretiert. Als fortschrittlich galten lange Zeit Parteien und Regierungen, die sich durch ein klares Programm und die Berücksichtigung von Gruppeninteressen auszeichneten. Personalisierung kann im Vergleich zu diesem aufgeklärten Demokratiebild nur als Reduktion verstanden werden. Aus der Sicht von Niklas Luhmann dient sie dem Bürger dazu, die Komplexität seiner Umgebung zu reduzieren und sein Vertrauen in die politische Führung zu festigen[45].

 

Der Wahlkampf zwischen den drei Kanzlerkandidaten und dem liberalen Spitzenkandidaten sollte der Anlaß sein, der personalisierten und demokratischen Leadership ihren angemessenen Platz im deutschen politischen System einzuräumen. Neben der soziologischen Erklärung hat die psychologische Interpretation von Führung gleiches Gewicht. „Likes und dislikes, love and hatred“ beziehen sich in der Regel sowohl auf den Politiker, der einen bestimmten Vorschlag macht, als auch auf den Vorschlag selbst. Die Urteile der Wähler über die persönlichen Eigenschaften der Politiker sind ebenso als Fakten zu bewerten wie die Resultate soziologischer Untersuchungen. Hierzu gehören das Vertrauen in die Erfahrung und  die Sachkunde von Bewerbern sowie die Überzeugung, dass sie ihre proklamierten Ziele auch durchsetzen können. Eingeschlossen sind hierbei Urteile der Wähler aufgrund von richtigen und falschen Informationen. Erst die Kombination von psychologischer und soziologisher Analyse kann ein zutreffendes Bild der Beziehungen zwischen Bürger und Leader vermitteln[46].

 

Aber sind diese Überlegungen nicht in dem Moment obsolet, falls eine Regierungsbildung zwischen mehreren Parteien notwendig ist? Tritt das personelle Element nicht hiermit in den Hintergrund zu Gunsten der Parteiprogramme und der dahinter stehenden Interessen? Dies mag vorübergehend der Fall sein, weil bei den Verhandlungen über den Koalitionsvertrtag, der in Wirklichkeit eine Absichtserklärung ist, Politiker in den Vordergrund treten, die im Wahlkampf kaum sichtbar waren. Der noch nicht zum Bundeskanzler gewählte Wahlsieger tritt demgegenüber in den Hintergrund und die vielzitierte Kanzlerdemokratie scheint eine Kunstpause einzulegen. Aber nur für kurze Zeit, denn die tagespolitischen Probleme fordern ein über den Koalitionsvertrag hinausgehendes Handeln -  gelegentlich sogar, bevor der neue Kanzler gewählt ist. Die Worte „Corona“, „Pandemie“ und „Impfung“ kommen zum Beispiel im Koalitonsvertrag für 2021-2025 gar nicht vor. Bei kritischen Situationen verlangt man vom Bundeskanzler, ähnlich wie vom amerikanischen Präsidenten, „to do something about everything“ – obwohl die Zuständigkeiten hierfür manchmal fehlen[47].

 

Die Konkurrenz vieler Parteien im Wahlkampf und im Parlament schließen die Leadership des Regierungschefs nicht aus. Eine Studie über die Niederlande und  Belgien zeigt, dass auch in Vielparteiensystemen die Personalisierung zunehmend die politsche Auseinandersetzung bestimmt und das Premierministeramt präsidiale Züge annimmt[48]. Beim kritischen Blick auf die Stabilität der neuen deutschen Dreierkoalition von 2021 sollte man auch die starke Position des Bundeskanzlers nach dem Grundgesetz nicht unterschätzen: Ein konstruktives Mißtrauensvotum wäre bei der gegenwätigen Zusammensetzung des Bundestages und der Außenseiterrolle der AfD nur möglich, wenn zwei Partner gleichzeitig die Koaliton verließen. Kritischen Fragen nach der Gefolgschaft in der eigenen Fraktion könnte Olaf Scholz mit den Worten von Charles de Gaulle  über die gaullistischen Abgeordneten begegnen: „Ils ont été elus dans mon ombre“ (sie wurden in meinem Schatten gewählt)[49].



[1] Zitiert nach Volker Hentschel, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München / Landsberg 1996, S. 577

[2] Michael Foley, The Rise of the British Presidency, Manchester 1993

[3] Thomas Poguntke / Paul Webb (Hrsg.), The Presidentialization of Politics. A Comparative Study of Modern Democracies, Oxford-New York 2005

[4] Léo Hamon / Albert Mabileau  (Hrsg.), La personnalisation du pouvoir, Paris 1964 ; Mattei Dogan, Le personnel politique et la personnalité charismatique, in : Revue française de sociologie, Vol. VI, 1965, S. 305-324; Roger-Gérard Schwartzenberg,  L´Etat spectacle – Essai sur et contre le star system en politique, Paris 1978 ; Jean Charlot, :The Gaullist Phenomenon, London 1971

[5] Albert Mabileau, La personnalisation du pouvoir dans les gouvernements démocratiques, in : Revue française de science politique, Vol. X, März 1960, S. 39-65, S. 42

[6] Maurice Duverger, La Monarchie républicaine ou comme les démocraties se donnent des rois, Paris  1974

[7] Seymour M. Lipset /Stein Rokkan, Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments: An Introduction, in: dies. (Hrsg.): Party Systems and Voter Alignments: Cross National Perspectives, New York-London 1967, S.1-64, S. 2 f.

[8] Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Max Weber  Gesamtausgabe  Bd. 23, Tübingen 2013, S. 502 f..

[9] kritischer die Berichte von Peter Carstens: Der Minister macht erst einmal weiter. Olaf Scholz . . .  steht am Scheideweg seiner Karriere, in: FAZ vom 10.12. 2019, und Nils Minkmar, Ein Fest der Heuchelei, in: SPIEGEL- ONLINE vom 10.12.2019, Abruf am 14.12.2019

[10] Jubel ander Spitze – aber auch an der Basis?, in: Rhein-Zeitung vom 11.08.2020

[11] https://www.forschungsgruppe.de/Umfragen/Politbarometer/Archiv/Politbarometer_2019/November_II_2019 (im Folgenden abgekürzt zitiert mit Monat und Jahr, z.B. Politbarometer November II 2019)

[12] www.youtube.com/watch2v=kVfv-quertwO, Abruf am 11.10.2021

[13] Organisationsstatut der SPD § 13(4)

[14] Politbarometer April 2021

[15] Politbarometer Mai I 2021.

[16] Politbarometer Juni I 2021

[17] https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2021/august/ (im Folgenden zitiert mit Monat und Jahr, z.B. Deutschlandtrend August 2021)

[18] Politbarometer Juli II 2021

[19] Politbarometer September III 2021. Bei der Wahl selbst erreichten die Grünen 14,8 Prozent,

[20] Politbarometer März bis Juni II 2021

[21] Politbarometer Juli II 2021

[22] Deutschlandtrend August 2021

[23] Katasprophenopfer gehen auf Laschet los – Die Wut nach der Flut www.bild.de/politik/inland/politik-inland/katasprophenopfer-gehen-auf-laschet-los . . . 02.08.2021, Abruf am 11.09.2021

[24] Franka Welz: Laschet entdeckt den Klimaschutz www.tagesschau.de/kommentar/laschet-klima-101.html   15.07.2021, Abruf am 11.09.2021

[25] www.tagesspiegel.de/politik/laschet-laviert-in-der-klimafrage . . .16.07.2021, Abruf am 11.09.2021

[26] Berthold Kohler: Ratschläge aus München - Unterstützung, die an Sabotage grenzt, in: faz.net vom 22.09.2021

[27] www.presseportal.de/pm/154530/5020020, Abruf am 14.09.2021

[28] Politbarometer August I und II sowie September III 2021

[29] Politbarometer August I bis September III.  Bei der Wahl selbst erreichte die CDU/CSU 24,1 Prozent.

[30] Politbarometer Januar I 2021

[31] Politbarometer Mai I 2021

[32] Politbarometer Juni und Juli I  2021

[33] Politbarometer Juli II 2021

 [34] Politbarometer Juli II, August I und II, September I, II und III 2021 sowie Deutschlandtrend Juli bis September 2021

[35] Deutschlandtrend April bis September 2021

[36] Max Kaase, Is there “Personalization” in politics? Candidates and voting behavior in Germany, in: International Political Science Review, Jg. 15, 1994, S. 211-230

[37] John Curtice / Sören Holmberg, Party leaders and party choice, in: Jacques Thomassen (Hrsg.): The European Voter. A comparative study of  Modern Democracies, New York 2005, S. 235-253, S.251 f.

[38] Arnold J. Heidenheimer: Der starke Regierungschef und das Parteiensystem. Der „Kanzler-Effekt“ in der Bundesrepublik, in: PVS, Jg. 2, 1961, S. 241-262, S.254 ff.

[39] Maurice Duverger (Anm. 5), S. 45-98

[40] Léo Hamon / Albert Mabileau (Hrsg.), La personnalisation du pouvoir. Entretiens de Dijon, Paris 1964, S. 458-466

[41] Jacques Ellul, Propagandes, Paris 1962, S. 166-169: dt. Ausgabe: Jacques Ellul, Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt/a.M. 2021, S. 195-199

[42] Jacques Ellul, Propagande et personnalisation du pouvoir, in : Léo Hamon / Albert Mabileau (Anm.40), S.331-341

[43] Jean Blondel / Jean-Louis Thiébault, Political Leadership, Parties and Citizens. The personalisation of leadership, New York 2010, S. 19-24

[44] Karlheinz Niclauß, Kanzlerdemokratie. Regierungsführung von Konrad Adenauer bis Angela Merkel, Wiesbaden 2015, S. 63 f.

[45] Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stutgart 1968, S. 6 und 23.

[46] Jean Blondel /Jean-Louis Thiébault (Anm. 40), S. 5-9 und S. 32

[47] nach einer Formulierung von Richard E. Neustadt, Presidential Power. The Politics of Leadership with Reflections on Johnson and Nixon, New York u.a. 1976 (2. Aufl.), S. 5 f.

[48] Stefan Fiers / André Krouwel, The Low Contries: From “Prime Minister” to President-Minister, in: Thomas Poguntke / Paul Webb Hrsg.), (Anm. 3), S. 128-156, insbes. S. 143-150

[49] zitiert nach Mattei Dogan (Anm. 3), S. 310